Aus:
MARTIN UND DER KLANG DES SCHNEES
(Roman, 2013)
Ein paar Sätze Kerns waren Martin insbesondere im Gedächtnis geblieben: "Die Wirklichkeit lässt sich im Erzählen nie ganz
fassen, den die Wirklichkeit ist entweder allzu vielschichtig und mehrdeutig oder aber sie ist so erschreckend banal, dass sie nicht erzählenswert erscheint. So wird auf der einen Seite
vereinfacht, um überhaupt etwas erzählbar zu machen, auf der anderen Seite aber wird aufgebauscht und übertrieben. So entstanden die Heldensagen und die Märchen und Mythen, und so entsteht Ihre
eigene Lebensgeschichte."
Aus:
VOM LEBEN DER KAULQUAPPEN
(Erzählband, 2014)
Phantasie war etwas Wunderbares, wenn man durch den kleinen Wald strich und über die Wiese und dabei an Dschungel und Savanne dachte, und aus dem Teich der Kaulquappen eine raue See werden konnte oder ein Fluss voller Krokodile. Doch Phantasie bedeutete auch, sich vorzustellen, das Haus der Eltern sei, während man selbst ahnungslos in der Schule saß, niedergebrannt oder durch ein lokales Erdbeben mit Epizentrum genau unter dem Haus eingestürzt.
Drei Brüder
Erschienen in: „Die Rampe“, Hefte für Literatur, hg. vom Stifterhaus Linz, Zentrum für Literatur und Sprache in Oberösterreich, Nr. 4/2011
Drei Söhne. Das kling wie in einem Märchen. Es war einmal ein Mann, der hatte drei Söhne ... Der dritte ist immer etwas Besonderes. In den Märchen. Die ersten zwei sind angepasst und tüchtig, der dritte ist anders. Er ist ein Verlierer oder ein Glückspilz. In den Märchen ist er immer der Glückspilz. Er bekommt die Prinzessin, löst die Aufgaben, bei denen seine tüchtigen älteren Brüder versagen. Aller guten Dinge sind drei. Drei Söhne, das ist schon was. Früher keine Seltenheit, da waren auch sieben Söhne leicht möglich. Dazu gibt es ebenfalls Märchen. Gewiss. Aber bleiben wir bei drei, das ist übersichtlicher. Und in diesem Fall entspricht es schlicht der Realität.
Hat man zwei Söhne und ein dritter wird geboren, macht man Pläne. Die macht man bereits beim ersten und beim zweiten, sicherlich. Doch beim dritten muss man sich etwas überlegen. Der erste Sohn übernimmt den Hof oder die Firma. Erweist er sich als Versager, ist ein zweiter da, für den Notfall. Aber Erstgeborene sind selten Versager. Die spuren schon. Die sind tüchtig. Werden darauf getrimmt. Sind die Anführer, die geborenen Autoritäten, schaffen ihren kleinen Brüdern von klein auf an und sind Wortführer und Respektspersonen. Die Zweitgeborenen sehen sich als zweite. Treten selten in Konkurrenz mit dem Ersten, wollen etwas ganz anderes werden. Ist ein dritter da, kommen sie ins Hintertreffen, das Anderssein wird ihnen abgekauft auf die eine oder andere Weise. So anders wie dieser dritte wollen sie dann doch nicht sein, da halten sie sich lieber an den großen Bruder, nicht an den kleinen. Und wenn etwas passiert, ist der zweite Ersatz für den ersten. Wenn ein Weltkrieg dazwischenkommt zum Beispiel. Schon passiert. Dann übernimmt der zweite die Aufgaben des ersten, die geplante Hof- oder Firmenübernahme. Wird Chef und der dritte wird zum zweiten, darf und kann noch immer anders sein. Aber weil am zweiten immer die Last liegt, im Notfall für den ersten einzuspringen, kann er nicht unbefangen anders sein, das kann erst der dritte. Der kann studieren oder Dichter werden oder Geistlicher, wenn er mag oder wenn man meint, dass er mögen sollte. In manchen Familien ist der dritte sowieso als Geistlicher oder zumindest als Studierter vorgesehen, des Prestiges wegen. Wenigstens zu der Zeit, als die drei Brüder jung gewesen waren, war das so.
Pläne und Schicksal, in dem Bereich bewegt sich das ganze. Das Leben hält sich nicht an Pläne und das Schicksal kommt dazwischen. Der eine hofft, der andere träumt und wieder ein anderer macht sich keine Illusionen. Und dann kommt etwas dazwischen. Oder auch nicht.
Was wäre, wenn. Was wäre gewesen, wenn … – Paul denkt über so etwas sicher nicht nach und Sabine auch nicht. Das tue bloß ich. Und ich bin ein Einzelkind, genauso wie Paul und Sabine. Aber unsere Väter waren drei Brüder. Und meiner war der zweite.
Als Josef in den Krieg musste, war Karl fünfzehn und Martin neun. Josef war ein Mädchenschwarm, Karl ein Gymnasiast und Martin noch ein Kind. Das war 1940. Der Krieg dauerte noch eine Weile und man musste Josefs wegen mit dem Schlimmsten rechnen. Karl wurde aus der Schule genommen. Falls dem Josef was passiert. Dann könnte er einspringen. Ob Josef etwas passiert war, wusste man nicht. Er galt als vermisst. Er war weg und so gut wie tot. Statt Karl kam Martin aufs Gymnasium. Er tat sich auch leichter, war ein wahrer Vorzugs- und Musterschüler. Karl war höchstens Durchschnitt gewesen und eignete sich ganz gut fürs Handwerk. Nicht überdurchschnittlich, aber ganz gut. Er war weder so begabt wie Martin, noch so gutaussehend wie Josef, eben Durchschnitt. Es ging so. Die Schule vermisste er nicht sehr. Zu Hause ging’s ihm besser. Die Eltern schauten auf ihn und der Vater war richtig stolz. Fast so stolz, wie früher auf Josef. Und die Mädchen im Dorf begannen, als er älter wurde, ihn auch mit anderen Augen anzusehen. Er war nicht mehr bloß der Bruder vom Josef, er war der Karl, der Erbe, und das glaubte er auch selbst. Bis Josef wiederkam.
Als Josef wiederkam, wurde alles anders. Niemand sagte Karl, dass er jetzt überflüssig war. Das brauchte ihm niemand zu sagen, das wusste er selbst. Alles drehte sich um den heimgekehrten Josef und seine Geschichten, seine Abenteuer, die er entweder ausschmückte oder mit Schweigen zudeckte. Ganz unversehrt war er wieder da. Nach einer Schlacht irgendwo in Frankreich, wurde er nicht mehr gesehen. Er tauchte unter. Bei einer Bäuerin, einer jungen Witwe. Und dann hatte er sich nach Hause durchgeschlagen, er wollte doch wieder heim, obwohl er es dort nicht schlecht gehabt hätte. Karl hätte es ihm vergönnt. Eine Ansichtskarte vom Bruder hätte ihm genügt: Es geht mir gut, ich bleibe hier. Aber so war’s nicht.
Martin, so hieß es, würde eintreten. Ins Kloster, wo er das Gymnasium besucht hatte. Die Mutter weinte vor Freude. Über Karl weinte sie auch ein wenig, doch nur heimlich. Aus der Sache mit Renate, die sie gern als Schwiegertochter gesehen hätte, war nämlich nichts geworden. Eigentlich weinte sie mehr wegen Renate als wegen Karl, und genau genommen auch nicht wegen Renate, sondern wegen sich selbst, wegen ihrer ungenügenden Menschenkenntnis, könnte man sagen, weil sie Renates wahren Charakter nicht gleich erkannt hatte, der zeigte sich erst, als sie einen anderen heiratete als Karl, einen Hoferben nämlich, aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt. Heimlich weinte sie aber doch auch wegen Karl, aber eben nur heimlich, laut und nach außen hin schimpfte sie bloß und machte ihm Vorhaltungen: Warum er sich denn so gehen lasse und so antriebslos wurde, man müsse sich richtig schämen mit ihm. Er sei doch ein gesunder, starker Kerl, der Karl, er könne sich doch eine Arbeit suchen, notfalls könne er in die Stadt, da würden immer Leute gebraucht. Er habe das Handwerk doch gelernt, damit ließe sich schließlich etwas anfangen. Sogar der Vetter Poldl, der ohne seinen rechten Arm vom Krieg zurückgekommen sei, wisse etwas mit sich anzufangen. Bei einem so tüchtigen Mann wie dem Poldl wäre die Renate sicher geblieben. Dieser letzte Hinweis war der eine zu viel. Karl schrie seine Mutter ordentlich zusammen und packte seine Siebensachen. Statt seiner zog nun Maria ins Haus ein, die resche Marie mit den blitzenden schwarzen Augen und der scharfen Zunge, die Dorfschönheit und Tochter des Bürgermeisters und reichsten Bauern im Ort. Mit ihrer Mitgift wurde Josefs Betrieb ausgebaut und ein neuer Wind kehrte ein, durch den sich die Mutter einen chronischen Husten zuzog, den sie in den letzten zwanzig Jahren ihres Lebens nicht mehr loswurde. Der Vater der drei Brüder starb bald darauf, obwohl ihm die resche, frische Marie ganz gut gefallen hatte. Beim Begräbnis war Karl natürlich da und auch Martin, der bei der Zehrung im Wirtshaus wie nebenbei verkündete, er würde doch nicht Priester werden, aber Doktor schon, dazu sei er auf dem besten Wege, sagte er schmunzelnd, und wurde schließlich Notar.
Mein Vater brachte es bis zum Polier. Inzwischen sind alle drei Brüder tot. Paul ist schon Großvater, Sabine führt noch – sie ist energisch und resch wie ihre Mutter – die Bäckerei und ich denke über uns nach. Und denke manchmal, was gewesen wäre, wenn …
Ich stelle mir vor: Ich als Sabine. Die Frage nach meiner Zukunft, die mir so oft auseinandergesetzt wurde, wäre in dem Fall gegenstandslos gewesen, weil klar: Bäckerlehre und dann den Betrieb übernehmen. Einen der Gesellen heiraten vielleicht, oder einen auswärtigen Meister, noch besser. Tüchtig sein und neue Ideen haben. Eine angesehene Person im Ort sein und gut das Geschäft führen. Nebenbei eine Familie natürlich. Oder auch, wie Sabine, einen zugereisten Volksschullehrer heiraten und – weil man ja tüchtig genug ist – das Geschäft alleine führen. Aber eins von den Kindern soll dann schon den Betrieb übernehmen und das Handwerk lernen. Sabines Sohn hat jedenfalls Soziologie studiert und sich das nicht ausreden lassen, aber die Tochter ist am Handwerk interessiert und hat schon den Preis als bester Lehrling des Jahres eingeheimst.
Oder: Ich als Paul: Breit mit ausgeprägtem Doppelkinn vor meinen Klienten sitzen und bedächtig die dicke Zigarre in den Fingern drehen. Paul sieht im Sitzen gut aus, nur im Stehen oder Gehen ist sein Bauch störend und er wirkt etwas plump. Aber wenn er auf einer Couch sitzt, die Arme weit ausgebreitet auf der Lehne liegend, ob gescheit daherredend oder halbunanständige Witze machend, das hat schon etwas Beeindruckendes und auch Vertrauenerweckendes. Bei einem Notar schadet das nicht, im Gegenteil. Eine gewesene Opernsängerin als Mutter hat auch was für sich. Da kann man sich auf Anlagen in jeder Hinsicht berufen und von Musik versteht Paul etwas, das muss man ihm lassen, da hat er Geschmack, und Klavier spielt er auch ganz passabel. Die ältere Tochter beginnt eine Karriere als Staatsanwältin, die jüngere besucht die Kunstakademie. Da kann man stolz sein und mehr als das. Eine liebe, verständnisvolle Frau, natürlich immer wieder Liebschaften, die sich so ergeben, ein Beruf, der leicht von der Hand geht und der auch Freude macht, da kann man richtig glücklich sein und das Leben genießen.
Ich als ich, als die Edith, die ich bin: Vater Maurerpolier; Mutter Hausfrau, früher Friseuse. Reihenhäuschen am Stadtrand. Zugegeben weder besonders begabt noch besonders hübsch. Höchstens Durchschnitt. Es geht so. Was soll man schon erwarten. Irgendwie geht’s immer. Machst halt die Handelsschule, ist einmal naheliegend. Dann ergibt sich schon was, in einer Spedition zum Beispiel. Dann schaust du dich um einen tüchtigen Mann um. Und wenn das nichts wird, dann hast du immerhin einen Beruf, mit dem du ganz zufrieden sein kannst.
Nachdem Karl in die Stadt gegangen war, wo niemand seine Geschichte kannte, er sich als tüchtig erwiesen und in einer etwas oberflächlichen aber liebenswürdigen Friseuse eine Braut gefunden hatte, war er bereit, sich mit seiner Familie und vor allem seinem Geschick auszusöhnen. Zumindest nach außen hin. Innerlich blieb er bis an sein Lebensende verbittert. Er besuchte an den Wochenenden seine Mutter, brachte seine Familie mit und war gern gesehen. Man war nicht stolz auf ihn, aber man hatte auch keinen Grund, ihn zu verachten. Das kleine Mädchen, das er hatte, Edith, stand der Großmutter natürlich nicht so nahe, wie Sabine, die im selben Haus lebte, oder wie Paul, der nur ganz selten mit seinen Eltern zu Besuch kam, und den sie darum besonders verwöhnte. Sie war eben Edith, nichts Besonderes, aber doch ein braves Mädchen.
Wenn Josef in Frankreich geblieben wäre, wäre ich Sabine.
Wenn der Krieg nicht dazwischen gekommen wäre, wäre ich Paul.
Das heißt, natürlich wäre ich nicht Sabine, sondern Edith (oder was für einen Namen man mir gegeben hätte), und mein Vater wäre Karl, der Bäckereiinhaber. Im anderen Fall wäre ich auch nicht Paul, sondern Edith (ich bleibe einmal bei meinem Namen), Tochter von Karl, der Notar oder Arzt oder Lehrer geworden wäre.
Meine Mutter wäre wahrscheinlich keine ehemalige Friseuse, sondern eine Dorfschönheit oder eine gutbürgerliche Tochter, vielleicht eine Künstlerin. Von ihr hätte ich entweder Schönheit oder Begabung. Oder beides. Immerhin: andere Möglichkeiten.
Ich wäre jedenfalls eine andere. Mich, wie ich bin, würde es nicht geben.
Selbst wenn total unbegabt, hätte man mich aufs Handwerk hingetrimmt oder mich in höhere Schulen geschickt und mit teuren Nachhilfelehrern durchgebracht.
Selbst wenn eine graue Maus und ein Mauerblümchen, trotzdem eine gute Partie mit entsprechenden Möglichkeiten.
So aber bin ich die Edith, die ich bin. Das Reihenhäuschen der Eltern ist jetzt meins, letzten Sommer war eine Renovierung nötig, neue Fenster und neuer Verputz. In der Spedition habe ich Prokura und der Arbeitsplatz ist behindertengerecht eingerichtet, das Haus sowieso, der Treppenlift bringt mich nach oben ins Schlafzimmer; Frau Bauer macht einmal die Woche sauber und besorgt die Einkäufe.
Rainer war einer, den mein Vater als tüchtigen Mann bezeichnet hat. Für mich nicht die große Liebe (die hatte ich mir da, mit Anfang zwanzig, schon längst ausgeredet), aber ganz umgänglich und nett. Ich hätte mir schon vorstellen können, mit ihm mein Leben zu verbringen. Handelsangestellter mit ganz gutem Einkommen. Mein Vater hat schon Pläne gezeichnet, am Haus hinten dranzubauen, damit wir, wie er sagte, dort unser eigenes Nest einrichten könnten. Autos waren Rainers Leidenschaft, er hat gerne in der Freizeit daran herumgebastelt, sein Bruder hatte eine Werkstatt. Er hatte mich oft mitgenommen, auf seine Spritztouren, wie er sie nannte.
Im Mai 1983 ist dann der Unfall passiert. Seither sitze ich im Rollstuhl. Rainer ist tot. Und ich hätte Glück gehabt, sagte man mir. – Ich weiß nicht, ich zweifle ein wenig daran.
Elisabeth Strasser, März 2010