Der Anfang eines zwischen Jänner und Juni 2019 entstandenen Romans.
Eine Geschichte, die Edwin Schneeberg (die Hauptperson des Romans) gewiss in den Bereich des „magischen Realismus“ einordnen würde. – Vielleicht gelingt es, diese Geschichte in ganzer Version
in Buchform zu veröffentlichen.
Märzennebel
DAS ENDE – oder FAST DAS ENDE
Einer der Feuerwehrmänner hatte Emma eine Decke um die Schultern gelegt. Es tat gut, obwohl sie die lammfellgefütterte Jacke trug und ihr nicht kalt war. Sie saß auf dem Steinblock unter dem Kreuz am Weg, weit genug vom Haus entfernt, um nicht mehr wegen des Rauchs husten zu müssen. Sie blickte auf ihre Hände auf dem Schoß und zupfte an einem losen Faden am Jackensaum. Sie musste den Saum neu nähen. Oh ja, das würde notwendig, wenn sie weiter an dem Faden zog. Ganz ausgefranst war die Stelle am Saum bereits. Es gab da noch einige Fäden, an denen sie zupfen konnte. Sie wollte jetzt nichts anderes sehen als den Saum und ihre Finger, die den Faden einrollten, einen winzigen Knoten drehten und fest zusammenzogen, um dann einen weiteren zu knüpfen. Etwas rumpelte. Sie schaute nicht hin. Die Feuerwehrleute hatten wohl Werkzeuge oder Geräte aus dem Wagen geholt. Oder die Leiter, die sie daran befestigt gesehen hatte. Sie roch keinen Raum mehr. Nichts mehr. Vielleicht hatte sie überhaupt den Geruchssinn verloren. So etwas mochte passieren, zumindest vorübergehend. Eine spitze Stelle des roh behauenen Granitblocks drückte in ihr Gesäß. Sie verlagerte ihr Gewicht und setzte sich besser zurecht. Sie würde noch länger hier sitzen bleiben. Was sollte sie sonst tun? Einfach hier sitzen bleiben und mit den losen Fäden am Saum ihrer Jacke spielen. Alle Gedanken sammelten sich um ihr nächstes Vorhaben: den Saum nähen. Nähen, das hatte sie schließlich gelernt, das war ihr Beruf. Sie konzentrierte sich auf den Saum. Vergaß alles um sich herum. Wollte von nichts rundherum wissen. Das war jetzt Sache der Feuerwehr. Sie wollte gar nicht wissen, ob die Feuerwehrleute Edwins Leiche bereits in den verbrannten Trümmern ihres Hauses gefunden hatten. Irgendwann würde sie sich damit abfinden müssen, das wusste sie. Doch jetzt noch nicht. Jetzt nicht, solange es keine Gewissheit gab. Die Gewissheit, die ihr vielleicht in den nächsten Minuten mitgeteilt werden würde. „Es tut mir leid …“ Karl, ja gewiss Karl Weber würde ihr das schonend beibringen, niemand anders als er, der gute Freund, der Nachbar, der Feuerwehrmann. Sie sollte sich auf das Saumnähvorhaben konzentrieren und an sonst nichts denken. Das war im Moment das Beste. Nichts denken, sich auch nicht erinnern, an nichts denken außer das Saumnähvorhaben. Dabei hatte alles so wundervoll begonnen vor genau einem Jahr …
MÄRZ
Sonntag. Aufwachen. Das Geschäft geschlossen seit gestern Mittag. Danach ein paar Einkäufe. Ein Abendessen. So wie Emma es sich vorstellte: Ein gutes Steak in der Pfanne, eine Flasche guter Wein
auf dem Tisch. Eine Kerze angezündet. Edwin lächelte: „Du verstehst dich eben auf Stil.“ Er prostete ihr zu. Der volltönende Klang beim Zusammenstoßen der Gläser. Glück. Vollkommenes
Glück.
Glück, das ausbaufähig war. Das konnte man noch erwarten, unbedingt konnte man das. Die zwei Jahre des Zusammenseins zwar bereits zur Gewohnheit geworden, doch immer noch besaßen sie etwas von Neuheit. Die Gewohnheit glänzte noch, strahlte noch, war noch nicht zum Alltag ermattet. Wir sind jetzt ein Paar und leben zusammen und bauen unsere Zukunft aus. Der Anfang war gemacht mit der Hochzeit und mit Edwins Einzug in Emmas Wohnung im Stockwerk über dem Geschäft. Die Boutique. Emmas Traum. Träume, die in Erfüllung gegangen sind, wandeln sich und bringen neue Träume hervor …
Aufwachen. Sonntag. Edwin schläft noch. Emma stieg leise aus dem Bett und schlich ins Badezimmer. Dann in die Küche. Sie öffnete ein Fenster. Nebelfeuchte Luft. Märzennebel. Irgendetwas hatte es damit auf sich, erinnerte sich Emma. Eine der Bauernregeln, die ihre Großmutter oft zitiert hatte. „Nebel im März, in hundert Tagen kommt ein Gewitter“, so ungefähr hatte es gelautet.
Sie schloss das Fenster und brühte Kaffee auf. Sie schnitt den Brioche-Wecken auf und deckte den Tisch in der kleinen Küche. Ein Tisch, der nicht mehr als zwei Personen Platz bot. Für sie allein freilich groß genug, auch für sie und Edwin. Doch sie wollten nicht immer zu zweit bleiben. Vielleicht waren zwei Jahre allein zu zweit genug, um nun eine Familie anzudenken. Kinder. Neue Träume …
Sie goss Kaffee in ihre Tasse und setzte sich an den Platz der Frau Schober. Auf die Bank an der Wand. Der Platz, von dem man gleichermaßen aus dem Fenster schauen und die ganze Küche überblicken konnte. Sie blies auf den heißen Kaffee, bevor sie den ersten Schluck trank. Sie sah sich selbst siebzehn Jahre früher auf dem Stuhl gegenüber sitzen und schüchtern einen Schluck Kaffee nehmen. Sie hatte sich gleich einmal die Lippen verbrüht, die Tasse dann zu heftig auf den Tisch gestellt, sodass sie überschwappte. Kein sehr guter erster Eindruck bei einem Vorstellungsgespräch, hatte Emma gedacht. Doch Frau Schober hatte das offenbar anders gesehen.
Schneiderlehrling für Boutique gesucht. Nein, es hatte gar keine Stellenanzeige gegeben. Emmas Mutter hatte erfahren, dass Frau Schober hin und wieder einen Lehrling aufnahm. Wie viele sich beworben hatten, hatte Emma nie erfahren. Vielleicht war sie die erste gewesen, vielleicht hatte sie Glück gehabt. Obwohl sie damals, mit fünfzehn, kaum daran gedacht hatte, es könnte ein besonderes Glück sein, von Frau Schober als Schneiderlehrling aufgenommen zu werden. Es war einfach eine Arbeitsstelle. Eine, die sie sowieso brauchte. Weder besser noch schlechter als irgendeine andere. Erst später hatte sich herausgestellt, dass genau diese Stelle bei Frau Schober zu ihrem persönlichen Glück werden sollte. Damals war es bloß eine Weichenstellung gewesen, die den weiteren Verlauf ihres Lebens bestimmte.
„Den Kaffee habe ich bis ins Schlafzimmer gerochen, so bin ich schnell aufgesprungen, damit der Tag mehr von mir hat.“ – Edwin, ungekämmt und unrasiert, wie es sich für einen Sonntagmorgen gehörte. Er nahm sich vom Kaffee und setzte sich Emma gegenüber. Das dort imaginierte Bild ihrer selbst vor siebzehn Jahren löste sich auf. Die Gegenwart hatte die Vergangenheit ersetzt.
Sie beide waren keine Freunde von „großem Frühstück“, das war eine ihrer Gemeinsamkeiten, die sie im Laufe der Zeit festgestellt hatten. Kaffee und – wenn, wie sonntags, mehr Zeit zur Verfügung stand – ein, zwei Stück Brioche dazu reichten aus. Dabei konnte man sich durchaus viel Zeit lassen. Sonntags gab es außerdem die Samstagsausgabe der Tageszeitung zu lesen, die Edwin gestern besorgt hatte. Im Gegensatz zu Emma, die samstags bis Mittag im Geschäft sein musste, hatte er frei und darum die Zeitung offenbar gestern Vormittag bereits ausgiebig durchgeblättert, sie sah jedenfalls entsprechend zerknittert aus und war so umgeschlagen, dass sich nicht mehr die Titelseite zuoberst befand. Sie lag auf dem von Emma vorhin nicht beachteten Schränkchen neben der Tür. Die Küche war klein genug, sodass Edwin danach greifen konnte, ohne aufzustehen. Er schob die Zeitung über den Tisch auf Emma zu. Eine Seite des Anzeigenteils war aufgedeckt und mit Kugelschreiber etwas eingekringelt. – Träume …
Sie hatten beide ihre Träume und sie hatten ihre Gemeinsamkeiten. Als Emmas Blick auf die eingekringelte Anzeige fiel, wurde ihr das wiederum neu bewusst.
Verkauf. Häuser. Ehemaliges landwirtschaftliches Anwesen (renovierungsbedürftig), in P., 30 Kilometer von der Landeshauptstadt entfernt. Kontakt: Kanzlei Eder, Tel.Nr. … VB € 150.000,--.
„Du meinst …?“ – Edwin nickte. „Es ist
leicht leistbar, wenn wir unsere Ersparnisse zusammenlegen. Außerdem: VB heißt Verhandlungsbasis, mit Glück können wir noch etwas herunterhandeln. Und das ‚renovierungsbedürftig’ bei diesem Preis
wird nicht so schlimm sein. Ich habe heuer mein Sabbatical geplant, du weißt ja. Da hätte ich genug Zeit …“ – „Dein Sabbatical war für dein Buch geplant …“ – „Ja, das geht sich bestimmt auch noch
aus. Neue Umgebung, Ruhe, schöne Landschaft …“ – „Du kennst die Gegend?“ – „Nicht diesen Ort. Aber in der Umgebung war ich als Kind immer wieder auf Jungscharlager. Und wir beide wollten doch
…“
Ja, sie beide wollten es. Sie beide wollten, dass ihre Kinder nicht in der Stadt aufwachsen sollten. Sie beide waren nicht in der Stadt aufgewachsen, ebenfalls eine ihrer Gemeinsamkeiten. Edwin stammte aus einer ländlichen Kleinstadt, Emma aus einer Stadtrandsiedlung, doch sie hatte den Großteil ihrer Kindheit auf dem Bauernhof ihrer Großeltern verbracht. Seit damals, als sie sechs gewesen war und ihre Eltern sich scheiden ließen. Ihre Mutter war, nachdem der Vater auf die Trennung bestanden hatte, komplett durch den Wind gewesen, sodass alle es für am besten hielten, Emma solle bei ihren Großeltern leben. Zehn Jahre später, nachdem Sonja geboren war und die Mutter mit Sonjas Vater verheiratet, holte die Mutter Emma wieder zu sich zurück. Ihre wirkliche Kindheit aber, die schönsten Jahre davon, hatte Emma ihrer Meinung nach bei den Großeltern verlebt.
„Ich rufe gleich morgen bei der Kanzlei Eder an“, sagte Edwin.
„Ja“, sagte Emma, „unverbindlich ansehen können wir uns das Haus auf jeden Fall.“
...
Sie kaufen das Haus und ziehen ein. Erst allmählich erfahren sie von der Geschichte des Hauses und Edwin beginnt bald „Gespenster“ zu sehen, die jedoch ganz andere sind, als zunächst vermutet …
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Auszüge aus einer noch im Entstehen begriffenen Geschichte
mit dem Arbeitstitel „Die Schwierigkeit, von Acondedolus zu erzählen oder Der falsche Hase“
Vorstellung der beiden Hauptfiguren
HERTA
Es war ein Geruch, der sich eingesogen hatte, tief ins Holz der Tische und der Theke, der die Luft erfüllte, sodass sie zu dieser besonderen Luft wurde, die so anders war als jene in anderen Häusern. Genauso war das Licht anders hier, wenn die Nachmittagssonnenstrahlen durch die Fenster fielen, die selten geöffneten, einmal jährlich geputzten, vor denen draußen Blumen rot-violett-rosa-weiß in Kistchen Bewunderung und Preise eintrugen im Sommer, und im Winter die Blumenkistchen brach lagen, auf ein neues Jahr wartend.
Bierdunst und Schnapsdunst und Stammtischgelächter. Und der Geruch vom heißen Schweineschmalz, der Dampf aus der Küche und der Rauch der Zigaretten der Gäste und von der Pfeife des Direktors und der Zigarre des geistlichen Rats. Mütterliche Arme die schwere Pfanne greifend und väterliche Hand am Zapfhahn. Der Hans schleppte die Kisten und spuckte sich in die Hände und fluchte dabei, und der Resi Rock bauschte sich um die Hüften im Schwung des Tabletttragens, während die Blicke aller sich in ihrem Ausschnitt sammelten. Ich war da, und sie riefen mich zu sich und riefen mich weg und sagten: „Du wirst einmal …“ Du wirst einmal genau wie deine Mutter, genauso fesch, sagten sie mir, als ich klein war.
Alles war Lärm. Ich hielt mir die Ohren zu. Ein Glas zerschellte und ich wusste, das machte nichts, das konnte passieren. Ein Betrunkener rumpelte über die Stiege und es passierte ihm nichts, weil Betrunkene und Kinder einen speziellen Schutzengel hätten, so sagte man.
Irgendwann hatte ich mich davongemacht. Wie Schwester und Bruder vor mir. Nur mit dem Unterschied, dass man mir es nicht verzieh.
ROBIN
In fremden Häusern war ein anderer Geruch. Entweder roch es nach merkbar gar nichts, oder es roch nach den Geranien am Fensterbrett. Manchmal roch es auch nach gutem Essen oder nach Putzmittel oder nach Mottenkugeln, wenn der Wintermantel aus dem Schrank geholt wurde. Hin und wieder roch es angebrannt, wenn beim Kochen etwas daneben gegangen war. Hatte eines der Kinder gekocht, lächelte die Mutter dazu und lobte vielleicht sogar den guten Willen und verprügelte das Kind nicht wegen der angebrannten Reste. Und wenn die Hausfrau es gewesen war, die etwas hatte anbrennen lassen, dann schlug der von der Arbeit heimkehrende Mann nicht auf sie ein. Die Kinder wurden nicht angeschrien, wenn ihre Spielsachen am Boden herumlagen. Es wurde in diesen fremden Häusern und in diesen fremden Wohnungen weder auf Hunde noch auf Katzen noch auf Kinder eingetreten. Wenn ein Kind Nasenbluten hatte, dann hatte es einen Fußball auf die Nase gekriegt oder sich mit Schulkameraden geprügelt; wenn es Schrammen und blaue Flecken hatte, war es von einem Baum oder von der Schaukel gefallen. Wenn ein Kind in diesen fremden Häusern weinte, wurde es getröstet. Wenn ein Kind hungrig war, bekam es zu essen. Wenn mit einem Kind geschimpft wurde, dann gab es einen guten Grund dafür. Besen waren in diesen fremden Häusern dazu da, den Boden zu kehren oder Spinnweben von den Wänden zu wischen. Die Mütter in diesen fremden Häusern lächelten und hatten freundlichen Stimmen; die Väter waren nett und machten Späße. Selbst wenn die Väter Bier getrunken hatten, blieben sie, wie sie davor gewesen waren. Manche Kinder in den fremden Häusern sagten, ihre Mütter würden sie nerven. Manche Kinder in den fremden Häusern klagten darüber, dass ihre Väter kaum Zeit für sie hätten. Manche dieser Kinder wünschten sich also einen Vater, der sich mehr mit ihnen beschäftigte. Mein Vater beschäftigte sich sehr viel mit mir. Manche dieser Kinder wünschten sich eine Mutter, die sich weniger einmischte. Meine Mutter mischte sich wenig ein. Aber hätten diese Kinder meinen Vater und meine Mutter gekannt, so wie meine Schwester und ich sie gekannt haben, dann wären sie mit ihren eigenen Eltern überaus glücklich gewesen.
Aber von fremden Häusern, fremden Wohnungen und den Eltern anderer Kinder wusste ich lange nichts. Erst als ich dreizehn war, bekam ich eine Ahnung davon.
Elisabeth Strasser
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Dankbarkeit für die Verbundenheit
Nachruf Dietmar Ehrenreich, Verleger/Autor, 1960 - 2016
Etwas über vier Jahre haben wir uns gekannt.
Ich erinnere unsere erste Begegnung im Juni 2012. Er entschuldigte sich für sein Erscheinen in kurzen Hosen, weil er gerade von einer Tennisstunde käme. Wir sprachen über mein erstes geplantes Buch, er hatte eine Ausgabe der „Rampe“ dabei, in der er einen Beitrag von mir entdeckt hatte. Er stellte mir anregende Fragen über das Schreiben im Allgemeinen und den geplanten Debütroman im Besonderen. Und er verwendete einen Begriff, der sich im Laufe der Zeit bewähren sollte: Handschlagsqualität.
Die Präsentationen meiner in seinem Resistenz Verlag herausgegebenen vier Bücher waren stets ein besonderes – und besonders unterhaltsames – Erlebnis, für die Besucher und nicht zuletzt für mich selbst.
Im Zentrum dabei immer das Gespräch des Verlegers mit der Autorin. Die Fragen dazu ließ er sich kurz davor einfallen, meist auf einem Spaziergang unmittelbar vor der Veranstaltung, manchmal erst während dieser. Ich bewunderte diese Spontaneität, dieses sich Verlassen auf den Einfall des Augenblicks. Und seinen originellen Charme, sein besonderes Charisma, mit dem er diese Lesungen gestaltete und ihnen einen einzigartigen Charakter verlieh.
Knappe, treffende Worte.
Wir schrieben uns oft in den vier Jahren. Ich berichtete über Erlebtes, über geplante Geschichten, über das, was mich umtrieb und bewegte. Seine Antworten hielten sich meist kurz, manchmal nur Stichwörter, und kleine Ausdrücke des liebevollen Wohlwollens. In drei Sätzen, meinte er, könne man ein Buch ankündigen, und machte das. In eines seiner eigenen Bücher schrieb er mir als Widmung ein treffendes Wort: Verbundenheit.
Davon getragen und mit dem Gefühl, einander vertrauen zu können, nahm ich mir oft kein Blatt vor den Mund mit Überlegungen, Vorschlägen, durchaus auch kritischer Art.
Einiges blieb offen, einige offene Fragen, einiges Geplante, einiges zu Diskutierende; einiges, worauf es sich zu freuen galt.
Ein Teil von einem selber stirbt, verliert man einen wichtigen Menschen.
Dennoch, was bleibt, wenn er vorausgeht und heimkehrt zum letzten Ziel, ist die Dankbarkeit, ihm begegnet zu sein, ein Stück des Weges mit ihm gegangen sein zu dürfen. Und Dankbarkeit für die Verbundenheit.
Elisabeth Strasser, 30.9.2016
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In Wirklichkeit schreiben wir alle immer an dem selben Gedicht
Über Lesen und Interpretieren
Warum lesen wir überhaupt einen literarischen Text?
Im Falle von Romanen und Erzählungen ist diese Frage leicht beantwortet: Wir wollen eine Geschichte erzählt bekommen, wollen uns in eine fremde Welt oder in eine ferne Zeit führen lassen, oder auch durch die uns vertraute Zeit und Umgebung, die wir plötzlich mit neuem Blick betrachten können; wir wollen uns in fremde Schicksale hineinleben, über sie erfahren, Bekanntschaften schließen mit Menschen, die bloße Figuren sind, erfunden und ausgedacht, die rein aus Worten bestehen; Personen, mit denen wir in eine einseitige und somit unverbindliche Beziehung treten können, wir über sie alles wissen, während sie von uns nichts ahnen, unsere Anteilnahme an ihrem Schicksal nichts für sie ändert; wir somit an ihnen auf jeden Fall unschuldig bleiben können.
Geschichten erzählen auch Spielfilme, doch der Vorzug des Lesens ist, dass es Freiraum für Phantasie gibt. Wie genau eine Person, ein Ort, eine Szene in einem Text auch beschrieben sein mag, die Bilder entstehen erst im Kopf des Lesers, der Leserin; diese sind die Regisseure, sie besorgen Szenenausstattung und Rollenbesetzung, noch dazu ohne jeden Aufwand an Material und Kosten und ganz nach Belieben.
Mühsamer und zeitaufwändiger mag es sein, das Lesen, im Vergleich zum Ansehen eines Films, doch die Mühe lohnt sich, schon allein dadurch, dass Phantasie und Vorstellungskraft gewissermaßen trainiert werden, sie somit rege und beweglich bleiben.
Wie aber ist es mit den nicht-erzählenden Texten, mit Lyrik, mit experimentellen Romanen? – Hier gibt es keine „erzählenswerte Geschichte“, keine Spannung und kein Gespanntsein auf den Ausgang, hier werden, wie es scheint, Worte um der Worte willen gemacht; ein lyrisches Ich, von dem wir nichts wissen, schüttet uns sein Herz aus oder in andern Fällen scheint bloß jemand mit einem mehr oder weniger witzigen Sprachspiel Schabernack mit uns zu treiben. – Wollen wir das? Interessiert uns das?
Nun, die alten Balladen, die mittels oft höchster Sprachkunst schaurige oder schöne Geschichten erzählen, gehören dem Wesen nach zur erzählenden Literatur; die Poesie der Erlebnis-, Gedanken- und Liebeslyrik vermag uns in Stimmungen zu versetzen, und mancher Text aus dem Bereich „konkreter Lyrik“ bringt uns zum Lachen oder zum Staunen. – Aber dann gibt es noch die anderen Texte, die zumeist unter dem Oberbegriff „Lyrik“ laufen, und die wir absolut nicht verstehen. Mit gutem Willen ahnen wir, dass die Autorin oder der Autor sich bestimmt etwas dabei gedacht haben wird, manchmal zweifeln wir daran. Wird sich schon was gedacht haben dabei, aber warum sagt er oder sie uns das nicht einfach so, dass wir es auch verstehen können?
Wir hören, dass der Dichter X. einen Lyrikpreis bekommen hat oder dass die Romane der Schriftstellerin Y. hoch gelobt werden. – Voller Vorfreude greifen wir zum Lyrikband des X oder zum neuesten Roman von Y. und stellen fest: Im einen Fall bloßes Wortgeklüngel, im anderen Fall kaum eine wirkliche Geschichte, die den Namen Roman verdient, Banalitäten und keine spannungsvolle Geschichte, leere Worte. – Wir kommen uns – nun – verarscht vor. Die Literaturkritik, die Verlagslektionen, die Herausgeber, die Rezensenten allesamt jenem Hofstaat aus dem Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ vergleichbar? Irgendwer lobt und alle schreiben’s ab. Irgendwer hat einen Namen und kann daher nur mehr hervorbringen, was sich verkaufen lässt.
Wir können nur lesen, was geschrieben ist und – vor allem – was gedruckt und somit verbreitet ist. – Das andere kennen wir nicht. – Wir sind so auf den Geschmack jener angewiesen, die Entscheidungen und Urteile fällen. Wir haben, was uns vorliegt. Und sofern wir nicht Schriftsteller zu unserem näheren Bekanntenkreis zählen, sind wir allein auf das Gedruckte und Veröffentlichte angewiesen. – Nun, wenig ist das ohnehin nicht. Und wenn wir – nach den Erfahrungen mit X.’s Lyrikband und Y.’s Roman – nur mehr auf Altbewährtes zurückgreifen, reicht unser Leben nicht aus, auch nur einen Bruchteil dessen zu lesen, was es an literarischen Texten gibt, nicht einmal den sogenannten „Kanon“ schaffen wir. – Doch um die Masse geht es ohnehin nicht. – Ganz im Gegenteil. Was auch nicht heißen soll: zwei Romane und dreieinhalb Gedichte reichten aus.
Es ist wie bei den meisten Dingen: Qualität geht vor Quantität. – Damit ist nicht nur die Qualität des Lesestoffes gemeint, sondern und vor allem die Qualität des Lesens selbst.
Manche Romane eignen sich zum „Verschlingen“; möglichst schnell herauszubekommen, wer der Mörder ist, wie ein Rätsel gelöst, wie ein Abenteuer bestanden wird, welchen Ausgang eine Liebesgeschichte, eine Entdeckungsreise, ein Banküberfall, ein Klassenausflug, ein Forschungsauftrag oder was auch immer hat, ist vorrangig. Der Inhalt also. Doch ist es allein der Inhalt, der uns zum Lesen veranlasst? Würden wir eine Geschichte spannend finden, in der bloß nacheinander die Fakten einer Handlung geschildert werden, ohne Beschreibung von Landschaften, ohne Charakterisierung der Figuren, ohne die Gedankengänge und Überlegungen des Protagonisten oder der Erzählstimme? Wohl kaum; eine bloße Inhaltsangabe würde in dem Fall ausreichen. Hintergründiges erzeugt erst die Stimmung, erweckt erst das Interesse. Warum trägt gerade A. ein blaues Kleid? Warum beginnt die Geschichte mit einem Gewitter? Warum treffen sich B. und C. gerade im Mondschein? Warum wird etwas angedeutet, das für das zentrale Geschehen kaum Belang hat? Erst wer es versteht, diese Details aus einer Geschichte neben der äußeren Handlung herauszulesen und – ja, nun bin ich bei dem Stichwort – zu interpretieren, hat wirklich etwas von seiner Lektüre. Ein spannend geschriebener Krimi, ein kitschiger Liebesroman, beides routiniert geschrieben, interessiert nur einmal. Kennt man den Ausgang, erübrigt sich ein zweites Lesen. Texte jedoch, bei denen außer der Handlung noch etwas anderes mitschwingt, wie eine zweite Schiene nebenher läuft oder als eine weitere Ebene darüber oder darunter liegt, fordern geradezu auf, ein weiteres Mal und immer wieder neu gelesen zu werden.
Und vielleicht lesen wir den Roman der Frau Y. doch noch einmal und finden vielleicht irgendetwas in diesem Sinne Hintergründiges? Und die Gedichte des Herrn X. sind einfach nichts für zwischendurch; wir sollten sie vielleicht doch Zeile für Zeile, Wort für Wort in Ruhe nochmals lesen, vielleicht ergibt sich daraus ein Gedanke, auf den wir sonst niemals gekommen wären.
Manche Texte interpretieren sich selbst, eine (Erzähl)stimme erläutert und erklärt, sie werden aufgelöst und lassen – auf den ersten Blick zumindest – kaum Fragen offen. Andere Texte – und je kürzer umso mehr – provozieren geradezu eine Interpretation. Sie sind weniger dazu da, etwas zu beschreiben, etwas zu erzählen, etwas auszudrücken, als vielmehr dazu, eine Anregung zum Weiterdenken zu geben, sie immer wieder neu zu lesen und bei jedem Lesen auf neue Aspekte zu kommen. Doch auch in auf den ersten Blick klar erscheinenden Texten steckt meist viel mehr, eine weitere Ebene, die ein neues Lesen erkennbar macht und auch sie somit zu interpretieren sind.
Wer professionell liest, also in wissenschaftlicher oder kritischer Hinsicht oder auf die Entscheidung hin, ob ein literarisches Werk veröffentlicht wird oder nicht, muss ohnehin einen Text zumindest dreimal lesen, um sich überhaupt herausnehmen zu dürfen, ein Wort darüber von sich zu geben oder eine Entscheidung und ein Urteil zu fällen, alles andere wäre Überheblichkeit.
Jede Leserin, jeder Leser interpretiert, auch wenn dies meist unbewusst geschieht. Gedankenbilder entstehen, Assoziationen, Verknüpfungen mit eigenen Erfahrungen oder mit Inhalten früher gelesener Texte. Einiges an Möglichkeiten der Textinterpretation kann man lernen, es gibt dazu ein gewisses Handwerkszeug, der letzte Rest ist – wie bei allem – Talent oder Begabung und vor allem: wirkliches Interesse.
In der Literaturwissenschaft wird heute kaum von Interpretation gesprochen, sondern vorrangig von Textanalyse.
Analyse ist Zergliederung, Auflösung. Ein Ganzes wird in seine Einzelteile zerlegt und die Einzelteile werden angesehen; auf das Ganze wird dabei meist vergessen, darauf, dass es überhaupt ein Ganzes ist, das untersucht wird. Textanalyse kann sogar so weit gehen, dass der Inhalt oder die Aussage eines Textes überhaupt nicht mehr von Bedeutung ist, nicht mehr interessiert. Es geht um den bloßen Aufbau des Textes und seiner Sätze, manchmal wird ein einzelnes Wort herausgenommen und nach seiner Bedeutung untersucht, wenn’s hochkommt sogar hinsichtlich seiner Stellung im Gesamttext.
Analyse erhebt – auch wenn sie dies nicht unbedingt ausspricht oder sogar bestreitet, doch es liegt in ihrem Wesen – den Anspruch auf Objektivität. Und in gewisser Hinsicht ist diese Objektivität, dieser Versuch, mit geradezu naturwissenschaftlichen Methoden an einen literarischen Text heranzugehen, sogar nützlich und wichtig. In der Hinsicht nämlich, einen Gegenpol darzustellen zu jener Sicht, Interpretation sei ein rein subjektiver Umgang mit Texten. – Denn genau das soll sie nicht sein. Da ist mir eine sich „objektiv“ gebende Analyse allemal lieber. Private Textinterpretation ist Privatsache. Ich kann als Privatperson sagen, ein Text bedeutet für mich dies oder jenes; ich kann sagen, er gefällt mir, weil er z.B. ein Problem behandelt, das sich auch mir stellt und es in einer mir angemessen erscheinenden Weise löst; ich kann sogar auf die Idee kommen – gesetzt den Fall Grau wäre meine Lieblingsfarbe – einen Text, der alles Grau-in-Grau schildert, als „optimistisch“ zu interpretieren oder – gesetzt den Fall ich hätte eine Pollenallergie – im Text vorkommende Blumen abscheulich zu finden. Wenn ich aber nicht rein privat einen Text interpretiere, meine Interpretation also nicht für mich behalte oder nur in privatem Kreis darüber spreche, darf sie nicht rein subjektiv sein. Was heißt: Alles, was ich über den Text sage, muss sich an konkreten Aussagen, an konkret im Text verwendeten Ausdrücken festmachen lassen, und verwendete Bilder oder Symbole müssen dem „allgemeinen“ Verständnis dafür entsprechen (Grau wird eben nicht als Farbe des Optimismus verstanden und Blumen sind eben kein Bild für etwas Furchterregendes).
Gegner der Textinterpretation sind naiver Weise der Ansicht, alles Beliebige könne in jeden beliebigen Text hineininterpretiert werden. Das stimmt gewiss nicht. Der Text ist die Grundlage, nur von ihm wird ausgegangen. Sola scripura. Was geschrieben ist, ist geschrieben. Wenn nötig und zum Verständnis eines Textes unverzichtbar, kann ein Blick auf das Gesamtwerk des Autors oder – mit höchster Vorsicht – auf seine Biografie geworfen werden; wenn zum Verständnis nötig und nicht allgemein bekannt, können Hinweise auf die historischen und kulturellen Umstände eines Textes gegeben werden. – Die Frage, wer eine Textinterpretation liest, für wen sie geschrieben ist, stellt sich natürlich und stellt eine Interpretation in gewisser Weise sogar in Frage, da es immer Missverständnisse durch mangelndes Wissen auf der einen oder anderen Seite geben wird. Das Symbol des Frühlings wird für einen Tropenbewohner nicht verständlich sein; ein Buddhist aus Fernostasien wird mit einer Andeutung auf die Bergpredigt nichts anfangen können. – In dieser Hinsicht bleibt jede Interpretation eine Geheimschrift für Eingeweihte. Stimmt. Ansonsten wären zwei Drittel einer Seite einnehmende Fußnotenanmerkungen nötig. Doch lassen wir die Kirche im Dorf: Eine Interpretation wird doch im Allgemeinen für die Leserschaft der selben Sprache oder zumindest desselben Kulturkreises geschrieben.
Eine Interpretation dient dem Text genauso, wie sie von ihm ausgeht. – Dienen? Oh ja, das ist eine problematische Formulierung, denn man könnte sie in der Hinsicht missverstehen, die Interpretation solle für den behandelten Text Werbung zu machen, ihn bloß loben. Dienen heißt jedoch in dem Fall, den Text mir selbst und somit allen, denen meine Interpretation vorliegt, verständlicher zu machen, ihn zu deuten, im besten Falle verschiedene Möglichkeiten einer Deutung anzusprechen, letztlich und vor allem, den Lesern der Interpretation Anregungen zu geben, sich selbst weiter über den Ausgangstext Gedanken zu machen, ihn nochmals und noch genauer zu lesen. Einen Text, der mir als Interpret nichts zu sagen hat, der mir nicht „gefällt“, kann ich ohnehin nicht interpretieren, ich könnte ihn höchstens subjektiv kritisieren.
Interpretation erhebt im Gegensatz zur Analyse nie den Anspruch, objektiv zu sein; rein subjektiv jedoch darf sie ebenfalls nicht sein. Sie ist nicht subjektiv, aber persönlich. Was heißt: Der Autor, die Autorin der Interpretation bleibt greifbar, wird zur Stimme im Interpretationstext. Dies ist bei einer Analyse nicht der Fall, hier tritt die sie betreibende Person völlig hinter der Präsentation der Analyseergebnisse zurück, sie ist nicht wichtig – selbst wenn sie sich als wichtig hervortun sollte. Da eine Analyse objektiv ablaufen soll, würde jeder eigentlich auf die selben Ergebnisse kommen müssen, um es überspitzt zu sagen.
In der Interpretation wird der Interpretierende selbst zum Literaten. Eine Interpretation ist – im Gegensatz zur Analyse – selbst ein literarisches Werk. Aus Dichtung wird Dichtung – Weiterdichtung.
Man stelle sich einen Roman vor, aus dessen Inhalt jemand die Grundessenz herausfiltert und daraus ein Gedicht macht. Dieses Gedicht interpretiert wieder jemand anders und findet darin Aspekte, die wiederum eine andere Person zu einem neuen Roman anregen, der ebenfalls von jemand weiterem interpretiert wird oder aus dessen Essenz ein lyrischer Text oder ein Essay wird; jemand anders macht aus dem neu entstandenen Gedicht eine Kurzgeschichte, aus der wiederum jemand ein Theaterstück bildet, in dem eine Figur ein Lied singt, das sich verselbständigt und zum Schlager wird, der jemanden zu einer Geschichte anregt. Inzwischen haben sich die Aspekte und Grundthemen des ursprünglichen Romans verschoben und gewandelt. Die selben Themen vielleicht werden aus verschiedenen Gesichtspunkten und aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet oder werden umgekehrt. Immer Neues entsteht, Äste verzweigen sich, Wurzeln wachsen im Untergrund weiter, neue Sprösslinge kommen hervor; alles hat mit allem zu tun, regt einander an, befruchtet einander, verwandelt sich in Gestalt und in Inhalt. – In Wirklichkeit schreiben wir alle immer an dem selben Gedicht.
Elisabeth Strasser, Jänner 2011
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Masken
Welches Gesicht deiner vielen Gesichter
blickte mich an als das klare wahre einst?
Welches ist Wahrheit und welches ist Maske,
in welchem erkenne ich dich?
Und Schicht um Schicht trägst du meine Masken ab,
bis du erschrickst ...
und bist noch lange nicht am Grund –
geh‘ weiter, lege auch das Beste frei in mir!
Elisabeth Strasser, April 2003
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Denn alle Lust will Ewigkeit
Der Ofen aus – erzählt sie allen, ob sie es hören wollen oder nicht. Nichts als kalte Asche.
Und er stochert noch in der kalten Asche nach einem Flämmchen, das kurz auflodert, tatsächlich Licht für zwei Stunden einer Nacht. Kleine Strohfeuer auf dem erloschenen Vulkan.
Satte Behaglichkeit ist wenig, viel zu wenig für ein lebendiges Gemüt.
Wie weit werden wir gehen, fragt sie, wie weit noch?
Wir gehen bis ans Ende, sagt er, und darüber hinaus.
Wir sitzen schon im Dunkeln, sagt sie, und er stochert wieder in der Asche und entzündet am kleinsten Funken eine Kerze, die für drei Tage hält.
Und sie kratzt das erstarrte Wachs dann ab vom Kerzenleuchter und von der Tischplatte, wirft es weg und kauft eine neue Kerze für alle Fälle, die sie liebevoll verstaut in der Schublade für bessere Zeiten.
So fristen sie die Zeit und hatten von Ewigkeit geträumt. Aber Ewigkeit ist nicht mit Zeit zu messen. Ewigkeit ist nicht ins Unendliche verlängerte Zeit. Ewigkeit ist das ganz andere, das Gegenteil von Zeit. Ewigkeit ist Rückkehr in Erinnerung, erinnerte Gegenwart, ist der Traum von der Utopie, vom Nie-wirklich-so-sein.
An den Flanken des Vulkans hatte das Gras zu wachsen begonnen zunächst, dann die Büsche, kleine Bäumchen. Fruchtbar war die Lava geworden. Ein Weingarten lag am Fuße des Vulkans. In den Fässern die Ernte vieler Jahre. In den Gläsern hellgold und tiefrot die vergorene Frucht: Der Erfolg, die neuen Leben der Kinder. Und in die Gläser fallen die Tränen, die dem Funkenregen von einst nicht gleichen können.
Es muss den Wandel geben. Aber ist er nur Abstieg? Kann er nicht Kreislauf sein?
Kann nicht wieder neu? Kann nicht wieder neu? Bebt nicht die Erde, spürst du nicht? Kündigt sich vielleicht an, kündigt sich nicht vielleicht an, dass der Vulkan wieder ... – dass der Vulkan wieder ausbricht?
Es wäre doch schade, schade um die Bäumchen, um den hübschen Weingarten, um all die Behaglichkeit, wenn jetzt wieder Neubeginn, wenn jetzt wieder Veränderung, wenn jetzt wieder neu ...
Es wäre doch schade, belassen wir es dabei. Belassen wir es beim Alten, es ist doch gut so, gut so, wie es ist. Besser kann es kaum werden. Es gibt keine Steigerung mehr gegenüber dem Damals.
Was wäre denn, wenn ...? Was wäre denn, wenn alles wieder neu, was wäre denn, wenn alles wieder neu anfängt?
Wir sind doch glücklich, was willst du denn?
Wir wollten Ewigkeit, wir wollten Ewigkeit und hatten eine Reihe von Tagen, eine Reihe von Wochen, eine Reihe von Wochenendausflügen, eine Reihe von Monaten, eine Reihe von Urlauben, eine Reihe von Jahren, eine Reihe von Weihnachten, eine Reihe von Jahrestagen, eine Reihe von Geburtstagen, eine Reihe von durchwachten Nächten, eine Reihe von Liebesnächten, eine Reihe von Erinnerungen, eine Reihe von neuen Erlebnissen, eine Reihe von Daskennichschon, eine Reihe von Weißdunochdamals, eine Reihe von Fotoalben, eine Reihe von Wiedereinmal. Soll das so weitergehen? Soll das immer so weitergehen? Wenn es so weitergeht, wächst der Vulkan ganz zu. – Bebt nicht die Erde? Bebt sie nicht? Spürst du nicht, sie bebt doch? Oder ist das Täuschung? Alles nur Täuschung. Alles Enttäuschung letztlich. Was willst du denn?
Was wollte ich denn? Dass es immer so weitergeht, wie es anfangs begonnen hat? Wären wir gestorben doch, gleich beim Ausbruch des Vulkans. Wären wir doch, wären wir doch gleich gestorben am ersten Höhepunkt, wären wir doch zu Fossilien geworden gleich, umschlungen, eins geworden, versteinert im Augenblick, wie die Leichen von Pompeji für alle Zeit sichtbar gemachter Augenblick, Augenblick eines Lebens, keiner Veränderung mehr zugänglich. Aber wir leben, wir leben noch und sind Veränderung unterworfen, Veränderungen, die nichts sind als das Alltäglichwerden des einmal Außergewöhnlichen, unterworfen den Gesetzen, den unbarmherzigen Gesetzen des Lebens. Wir sind heute und wir waren gestern und werden morgen sein und werden geworden sein und waren, wie wir waren, anders als jetzt und doch gleich und morgen wieder, morgen wieder so, bis der Tod uns scheidet, und einer geht dem anderen voraus und der andere folgt in den Tod und so weiter, dann wir beide tot und Erinnerung der Kinder, die Kerzen auf unserem Grab anzünden und ihren Kindern und Enkeln von uns erzählen, eine Zeit lang noch und dann nicht mehr, dann vergessen. Schluss. Das war’s. War es das? War es das oder kommt noch was? Kommt noch Leben und Veränderung?
Wir sind, wenn wir jetzt glücklich sind, eingekapselt in Erinnerung, jeder für sich in seine. Und von außen? Von außen kommt nichts. Nichts jedenfalls, das stark genug ist. Käme doch von außen etwas, es wäre gut. Käme doch ein Blitz, ein Blitz von außen, der in mir ein Feuer entfachte. Käme er doch! Ich stelle mich in den Gewitterregen und warte auf den Blitz. Um mich herum schlagen sie ein, einer nach dem anderen, keiner trifft mich, keiner trifft dich. Nur der Regen, kalt, und die Hagelkörner, schmerzende Stacheln fremden Glückes, wenn der Blitz weit neben mir einschlägt und ein Feuer entfacht, an dem ich keinen Anteil habe, das mich nichts angeht.
Und dir, sagt sie, dir würde ich das neue Feuer gönnen, wenn es nur Feuer ist. Aber auch du bist kalt, sagt sie, und stocherst nur mehr in kalter Asche. Wieder für drei Tage eine Kerze. Wieder ein Strohfeuer für einen Augenblick, eine Stunde. Wie lange noch? Wie lange noch das möglich? Einmal nicht mehr, einmal nicht einmal mehr das. Was dann? Dann sich töten? Und dich zurücklassen, weil gemeinsam sterben nicht mehr möglich? Dich zurücklassen in der Kälte? Nein. Nein, ich könnte nicht, nein. Weil ich dir das nicht verzeihen könnte, wenn du es tätest, wenn du mich zurückließest in der Kälte. – Aber ist Kälte nicht besser als Lauheit? Nein, Angst vor der Kälte. Angst vor der Kälte habe ich. Aber habe ich nicht auch Angst vor dem Feuer?
Sei ehrlich, sei ehrlich zu dir, sagst du. Hast du nicht selbst auch Angst vor dem Feuer, fragst du. Und ich weiß es nicht, ich weiß die Antwort nicht. Vielleicht. Vielleicht stimmt es, vielleicht auch ich. Vielleicht habe auch ich Angst vor dem neuen Feuer in Wahrheit. Vielleicht wäre auch ich nicht mehr fähig, vielleicht wäre auch ich nicht mehr fähig für das Neue.
Bebt die Erde? Bebt sie? Ich habe Angst. Halte mich, schütze mich. Ich habe Angst vor dem Neuen. Ein Blitz, ein Blitz! Hoffentlich schlägt er nicht ein. Hoffentlich trifft er nicht mich, nicht dich. Wir haben es doch so behaglich. Neues kann nur störend sein. Die Erde bebt nicht. Sie bebt nicht! Die Erde ist ruhig. Der Vulkan schläft, ist eingeschlafen für alle Zeit. Er ist tot. Ein toter Vulkan ist es, auf dem wir leben. Die Hügel sind fruchtbar. Vielleicht wird in hundert Jahren einmal, in tausend Jahren, der Vulkan wieder ausbrechen, wenn wir nicht mehr sind. Die glühende Lava wird unser Gräber bedecken. Das stört uns nicht.
Wir sitzen bei kargem Kerzenlicht am erkalteten Ofen. Nichts stört uns, nichts berührt uns. Wir sehen unseren Kindern zu von ferne, wie sie spielen und wie sie Ernst machen, wie sie von Blitzen getroffen werden und brennen, brennen wie wir, früher einmal. Wir leben aus der Erinnerung. Das muss genug sein. Wir haben gebrannt. Das Perfekt ist die uns angemessene Zeit.
Elisabeth Strasser, Juni 2005